von Christof Bultmann & Marc Cechura
Wenn man das leere Blatt Karopapier lange genug
anstarrt, verwandelt sich das Muster wahlweise in einen Eiskristall, einen Stern oder in ein Cannabisblatt.
Außerdem fangen die Augen an zu schmerzen. Mit diesem Gedanken blickte er vom Papier auf. Doch das Bild, das sich ihm bot, war nicht weniger schmerzhaft.
„Ich hätte gern Pfeil und Bogen!“ raunte sein
Tischnachbar ihn an. Schon tausendmal hatte er seinen Mitbewohner daraufhin gewiesen, wie sehr er diese Karo-Fenstervorhänge hasste. Doch es half nichts, sie wehten im Wind, der durch das geöffnete Fenster kam und die Augen schmerzten.
„Was hast du gesagt?“, fragte er zurück.
„Ich hätte gern Pfeil und Bogen!““, sagte der
Tischnachbar ungeduldig. „Du weißt schon, aus Holz!“
„Pfeil und Bogen.“ , wiederholte er versonnen.
Unfähig sich zu bewegen starrten beide in alle
Himmelsrichtungen. „Pfeil und Bogen, das ist wie Tisch und Bett.“, sagte er langsam aber bestimmt und klopfte, um seine Worte zu untermauern, auf das Holz seiner Tischplatte. Der Tischnachbar sprang in einer spontanen Phase der Aktivität auf und schloß das Fenster. Eine erdrückende Stille erfüllte den Raum. Es dauerte eine ganze Weile, in welcher der Nachbar langsam und bedächtig hin und her blickte und an den Fingern drehte, als überlege er angestrengt.
„Pfeil ist wie Tisch … und Bogen ist wie Bett … oder umgekehrt!?“ Ätzende Augenblicke des Schweigens und angestrengten Nachdenkens vergingen, bis er sich ebenfalls aufschwang und mit unsicheren Schritten (das Echo der nackten Füße auf dem kalten Linolboden hallte bis in jede Ecke des Raumes) auf die kleine Schiefertafel zu wankte. Mit zittrigen Händen und einem penetrant quietschenden Kreidestück, malte er mit ruckartigen Bewegungen ein Karo auf die Tafel. Das
Quietschen der Kreide schmerzte, doch der Tischnachbar verzichtete darauf, sich die Ohren zuzuhalten.
„Ein Karo!“ sagte er mit gebrechlicher Stimme.
„Ein Karo!“, wiederholte sein Tischnachbar, ohne von der Tafel aufzusehen. Das Licht der Halogen- Röhren über den beiden flackerte und somit entstand ein wirres Schattenspiel in dem sonst spärlich eingerichteten Raum.
„Pfeil ist wie Pfeil, und Bogen, na du weißt
schon…“, die Beiden starrten sich an, um
herauszufinden, wer von ihnen gerade auf diese
Erkenntnis gekommen war. Doch das Halogen-Licht
versagte endgültig.
Nun wieder Stille, untermalt von dem Leisen Surren der Klimaanlage. Ein Schrei: „Karotisch, das ist alles völlig karotisch“, schrie er und kratzte mit den Fingernägeln auf der Schiefertafel, bis sie blutig wurden. Doch niemand konnte ihm mehr helfen.
„Das ist dein persönliches Karo, alles, was dir
bleibt, außer natürlich Pfeil und Bogen“, sagte der Tischnachbar ruhig und besonnen.
Beruhigt, aber trotzdem hoch errötet, erfasste er die Hände des Tischnachbars und sie fingen an sich langsam aber immer schneller werdend zu drehen. Sie drehten sich schon bald so schnell, dass sie in der Bewegung ineinander zu einem Kreisel verschmolzen und dabei glucksten sie Laute der Freude. Das Drehtempo war schon kaum mehr zu steigern als sich ruckartig die Tür
öffnete, der einzige Ausgang aus diesem Raum
(abgesehen von den Fenstern mit dem Karo!) und der
aufsehende Arzt erfasste die Situation schnell:
„Schwester, geben sie mir so viel Valium, wie sie
finden können, schnell!“ Und zu ihm, der immer noch wie betrunken durch das Zimmer taumelte: „Ruhig, ruhig, bleiben sie ruhig. Jetzt ist er wieder weg, der Tischnachbar, nicht wahr?“