Dass wir den dritten Advent haben, merke ich schon morgens auf dem Weg zum Zeitungkaufen: eine ältere Frau auf der gegenüberliegenden Straßenseite stößt seltsame Kehllaute aus. Sie ist alleine, läuft ziemlich schnell in stark gebückter Hatung die Straße herunter. Als sie merkt, dass ich sie anstarre, hält sie kurz inne und brüllt dann: „Guten Morgen, guten Morgen, guten Morgen.“
Ich winke und schäme mich ein bisschen, weil ich diese Frau noch nie gesehen habe, es noch fast dunkel ist und uns bestimmt alle Anwohner gehört haben. Auch wenn ich in einem Stadtteil lebe, in dem 60 Prozent die Grünen wählen und somit Pseudo-Toleranz und der Spirit des Gutmensch-Seins als geballte Masse durch die Straßen wabert und fast körperlich zu spüren ist, heißt das nicht, dass die Leute am Sonntag nicht auspennen wollen. „Eine schöne Adventszeit, eine schöne Adventszeit“, schreit die Frau aus Leibeskräften. „Das wünsche ich Ihnen auch“, sage ich gedämpft und mache ganz schnell, dass ich weiterkomme. Wieder einmal habe ich den Eindruck, dass ich schon viel zu lange in dieser Stadt bin.
Benjamin von Stuckrad-Barre – der hat es richtig gemacht. Während in Deutschland die Wirtschaft am Boden liegt und die Regierung kopflos agiert, bekam er einen Redakteurs-Posten bei der Schweizer Weltwoche angeboten und ist flugs nach Zürich umgezogen. Raus aus dem bundesdeutschen Chaos, rein in die eidgenössische Gemütlichkeit. Das Ergebnis kann man jetzt in der aktuellen Nummer 50 der Wochenzeitung sehen: Ein Artikel über Paola und Kurt Felix, vor dem ich symbolisch und voller Neid meinen Hut ziehen möchte. Stuckrad, der im Impressum den Solo-Status „Autor im Exil“ hat, versteht es irgendwie, Themen und Leute auszusuchen, die alle einen gewissen Ekelstatus haben. Er findet auch immer welche, obwohl bekannt sein dürfte, dass man über 80 Prozent seiner Reportagen „Verriss“ schreiben könnte.
Paola und Kurt lassen Benjamin auf einen Tagestripp nach Hamburg zur Aufzeichnung der „Johannes B. Kerner-Show“ mitreisen. Vorher geht’s zum Mittagessen mit ihrem alten Freund Karl Dall. „Felix erzählt wieder ein paar Filme. Er macht zwischendurch auch unglaublich schlechte Witze, und obwohl alle mitleidig dem irritierten bis gelangweilten Schweigen ein wenig von seiner Eindeutigkeitswucht nehmen wollen, mit Themenwechsel oder Instantschmunzeln, bringt Felix den schon früh aus der Kurve getragenen geplanten Witz rücksichtslos in voller Länge, bis zur überschätzten Pointe“, schreibt der Jungredakteur über Kurt, dem an dieser Stelle bereits zum zweiten oder dritten Mal die Zeitung aus der Hand gefallen sein dürfte.
„Jahrelanges Training hat Paola und Kurt Felix darauf konditioniert, ihr Dialogniveau asymptotisch dem Nichts anzunähern, immer bemüht, uneingeschränkt Mehrzweckhallen-verständlich zu bleiben, guten Abend Böblingen, es ist wunderbar wieder hier zu sein, in Böblingen. (…) Böblingen ist überall. Man sitzt ihnen gegenüber und wird ein Teil von Böblingen. Und ganz ehrlich: Es gibt weniger behagliche Gefühle, ja“, formuliert sich Stuckrad wunderbar an der Beleidigung vorbei. Mach weiter so, Benjamin. Und bleib ruhig noch ein Weilchen in der Schweiz. Hier verpasst Du nichts.