Unser Advent 17

Die Siebenzeilenmeldung, dass die Gewerkschaft ver.di wieder mal streikt, hatte ich als stark linksalternativer und stark kurzsichtiger Leser der taz einfach übersehen und mich stattdessen an Jan Ullrichs Artikel „Meine Zeit mit Halle Berry“ erfreut.

Hätte ich gewusst, dass die städtischen Verkehrsbetriebe in Freiburg zwischen 4 und 8 Uhr morgens streiken, hätte ich mein klappriges Damen-Fahrrad aufgepumpt und wäre damit „wie der Wind“ zur VHS geeilt. Tatsächlich stand ich um 6.45 Uhr wie „Falschgeld“ oder „bestellt und nicht abgeholt“ an der Straßenbahnhaltestelle und wartete und wartete und wartete und erfreute mich am Anblick der Weihnachtsbäume, die irgendein armer Mitarbeiter hoch oben auf dem Dach der Brauerei Ganter aufgestellt hat. Und irgendwann dämmerte es mir doch: „Da war doch was mit drei Prozent und Westen aus Müllsäcken in Signalfarben.“

Hätten die Verkehrsbetriebe nicht gestreikt, wäre auch die über 70 Jahre alte und 1,52 Meter große VHS-Putzfrau zur Arbeit gekommen. Dann hätte sie einen Zettel in ihrer Putzkammer gefunden, mit dem Hinweis der Verwaltungschefin, doch bitte den Taubendreck am Hintereingang zu entfernen. Weil die Verkehrsbetriebe streikten, konnte die Putzfrau aber nicht kommen und sah so auch nicht den Zettel, so dass schließlich um 7.45 Uhr die Verwaltungschefin an der Tür der Hausmeisterbutze klopfte. Statt der Putzfrau wurde nun ich aufgefordert, den Taubendreck wegzumachen, was meine Laune nicht verbessert hat.

Hätten die Verkehrsbetriebe nicht gestreikt, wäre auch die Putzfrau vom Nebengebäude gekommen, hätte geputzt, gesaugt und die Mülleimer ausgeleert, die Türen auf den beiden Etagen aufgeschlossen und mir damit lästige Arbeit erspart. Denn immerhin sind es fünf Minuten Fußweg vom Hauptgebäude zum Nebengebäude. Weil aber die Verkehrsbetriebe streikten, kam auch die Putzfrau des Nebengebäudes nicht und machte auch die Türen nicht auf. Während ich den Taubendreck wegmachte, hätten im Nebengebäude die „Sprachkurse für FrühaufsteherInnen“ beginnen sollen. Da aber die Putzfrau des Nebengebäudes aus den gleichen Gründen wie die Putzfrau des Hauptgebäudes nicht zur Arbeit erschien, waren die Türen verschlossen. Was ich nicht bedacht hatte.

Als ich gegen 8.30 Uhr nach Entfernen des Taubendrecks am Hintereingang des Hauptgebäudes routinemäßig meinen Gang zum Nebengebäude antrat, kamen mir ganz aufgeregt die Leiterinnen der Kurse „Englisch für FrühaufsteherInnen“, „Spanisch für FrühaufsteherInnen“ und „Italienisch für FrühaufsteherInnen I “ und „Italienisch für FrühaufsteherInnen II“ entgegen, die allesamt – so will es das Schicksal – nicht vom Streik betroffen waren und seit einer halben Stunde vor verschlossenen Türen standen. Genau wie die KursteilnehmerInnen, die müde auf der Treppe saßen und mit ansahen, wie ich von den Kursleiterinnen angekeift wurde.

Zum guten Schluss kam auch noch die Verwaltungschefin hinzu und hielt mir vor, dass ich den Taubendreck ruhig mit etwas mehr Elan hätte entfernen können. Danke ver.di, danke taz!

Veröffentlicht unter 2002

Unser Advent 14

Dass wir den dritten Advent haben, merke ich schon morgens auf dem Weg zum Zeitungkaufen: eine ältere Frau auf der gegenüberliegenden Straßenseite stößt seltsame Kehllaute aus. Sie ist alleine, läuft ziemlich schnell in stark gebückter Hatung die Straße herunter. Als sie merkt, dass ich sie anstarre, hält sie kurz inne und brüllt dann: „Guten Morgen, guten Morgen, guten Morgen.“

Ich winke und schäme mich ein bisschen, weil ich diese Frau noch nie gesehen habe, es noch fast dunkel ist und uns bestimmt alle Anwohner gehört haben. Auch wenn ich in einem Stadtteil lebe, in dem 60 Prozent die Grünen wählen und somit Pseudo-Toleranz und der Spirit des Gutmensch-Seins als geballte Masse durch die Straßen wabert und fast körperlich zu spüren ist, heißt das nicht, dass die Leute am Sonntag nicht auspennen wollen. „Eine schöne Adventszeit, eine schöne Adventszeit“, schreit die Frau aus Leibeskräften. „Das wünsche ich Ihnen auch“, sage ich gedämpft und mache ganz schnell, dass ich weiterkomme. Wieder einmal habe ich den Eindruck, dass ich schon viel zu lange in dieser Stadt bin.

Benjamin von Stuckrad-Barre – der hat es richtig gemacht. Während in Deutschland die Wirtschaft am Boden liegt und die Regierung kopflos agiert, bekam er einen Redakteurs-Posten bei der Schweizer Weltwoche angeboten und ist flugs nach Zürich umgezogen. Raus aus dem bundesdeutschen Chaos, rein in die eidgenössische Gemütlichkeit. Das Ergebnis kann man jetzt in der aktuellen Nummer 50 der Wochenzeitung sehen: Ein Artikel über Paola und Kurt Felix, vor dem ich symbolisch und voller Neid meinen Hut ziehen möchte. Stuckrad, der im Impressum den Solo-Status „Autor im Exil“ hat, versteht es irgendwie, Themen und Leute auszusuchen, die alle einen gewissen Ekelstatus haben. Er findet auch immer welche, obwohl bekannt sein dürfte, dass man über 80 Prozent seiner Reportagen „Verriss“ schreiben könnte.

Paola und Kurt lassen Benjamin auf einen Tagestripp nach Hamburg zur Aufzeichnung der „Johannes B. Kerner-Show“ mitreisen. Vorher geht’s zum Mittagessen mit ihrem alten Freund Karl Dall. „Felix erzählt wieder ein paar Filme. Er macht zwischendurch auch unglaublich schlechte Witze, und obwohl alle mitleidig dem irritierten bis gelangweilten Schweigen ein wenig von seiner Eindeutigkeitswucht nehmen wollen, mit Themenwechsel oder Instantschmunzeln, bringt Felix den schon früh aus der Kurve getragenen geplanten Witz rücksichtslos in voller Länge, bis zur überschätzten Pointe“, schreibt der Jungredakteur über Kurt, dem an dieser Stelle bereits zum zweiten oder dritten Mal die Zeitung aus der Hand gefallen sein dürfte.

„Jahrelanges Training hat Paola und Kurt Felix darauf konditioniert, ihr Dialogniveau asymptotisch dem Nichts anzunähern, immer bemüht, uneingeschränkt Mehrzweckhallen-verständlich zu bleiben, guten Abend Böblingen, es ist wunderbar wieder hier zu sein, in Böblingen. (…) Böblingen ist überall. Man sitzt ihnen gegenüber und wird ein Teil von Böblingen. Und ganz ehrlich: Es gibt weniger behagliche Gefühle, ja“, formuliert sich Stuckrad wunderbar an der Beleidigung vorbei. Mach weiter so, Benjamin. Und bleib ruhig noch ein Weilchen in der Schweiz. Hier verpasst Du nichts.

Veröffentlicht unter 2002

Unser Advent 13

Mein Impuls „Weihnachten = Plätzenbacken“ wird von Jahr zu Jahr schwächer. Vor drei Jahren habe ich mit Zimtsternen angefangen, im darauffolgenden Jahr gab es Vanille-Kipferl, die nicht wie Vanille-Kipferl aussahen, aber fast so schmeckten, vergangenes Weihnachten nur noch Ausstecher-Kekse, die keinem geschmeckt haben, inklusive mir. Dass der Antrieb schwächer wird, hat zwei Gründe: a) der nicht unbeträchtliche zeitliche Aufwand, b) die nicht unbeträchtliche Schweinerei in der Küche, die man später wieder wegputzen muss. Darüber hinaus habe ich in der Vorweihnachtszeit bereits soviel Süßkram, verspeist, dass mir beim bloßen Anblick von Spekulatius und Dominosteinen der Magen grummelt.

Okay, man muss die Plätzchen ja nicht essen. Und wenn man sich wie ich die Wohnung mit einem Sozialpädagogen und einem Waldorfschüler teilt, gehören gemeinsame WG-Aktionen irgendwie zum Pflichtprogramm. Das fördert das Gemeinschaftsgefühl und kommt total gut bei Frauen an, sagt der Sozialpädagoge. Und außerdem habe ich Hunger, sagt der Waldorfschüler, der immer Hunger hat. Und auch mir als Altlinkem mit Arbeitervergangenheit wurde es warm ums Herz: „Oh Du fröhliche, oh Du selige, gnadenbringende Weihnachtszeit“, sang ich fröhlich vor mich hin und entkorkte die erste Flasche Spätburgunder.

Wenn man alle Zutaten beisammen hat, ist die größte Schwierigkeit, nicht doch die Lust an der Backerei zu verlieren. Das ist vor allem dann der Fall, wenn man sich das zweite Glas Rotwein bereits vor dem ersten Arbeitsschritt hinter die Binde kippt. Das gilt übrigens auch für das Schreiben von Kinderfresser-Texten. Aber wofür hat man die Mitbewohner, die schon mal mit Rühren und Kneten anfangen während ich versuche, den Tisch zu säubern, auf dem gleich der Teig ausgerollt werden soll. Dabei finde ich in der Saplte, an der der Tisch aufgeklappt wird noch etwas, was aussieht, wie das Mehl vom vergangenen Winter, dazu diverse Wachsreste (Geburtstagsfeier im Sommer). Außerdem muss an der Unterseite des Tisches irgendjemand seine Kippe ausgedrückt haben, was beim Teigausrollen (mangels Nudelholz mit der mittlerweile leeren Spätburgunder-Pulle) nicht weiter stört.

Nachdem der Waldorfschüler sich beschwert hat, dass die Eier, die ich gekauft habe, nicht aus Freilandhaltung stammen, ist die erste Krise der Weihnachtsbäckerei da. Die Krise ist nach dem nächsten Glas Rotwein schnell wieder vergessen, und mittlerweile habe ich die Ausstecher-Formen gefunden, abgestaubt und wieder richtig zusammengebogen. Der Ofen glüht bereits, derweil der Sozialpädaoge noch jedes einzelne Plätzchen bunt gestalten möchte. Die nächste Krise ist da, weil sich der Waldorfschüler beschwert, dass die von mir gekauften bunten Kügelchen zum Belegen Farbstoffe und Konservierungsmittel enthalten. Die Krise wird nach oben aufgeführten Schema friedlich beigelegt.

Irgendwann sind die Plätzchen fertig, und wie immer hat keiner mehr Lust die Küche zu putzen. In diesem Zusammenhang erinnert der Sozialpädagoge den Waldorfschüler daran, dass er schon vor geraumer Zeit einen Putzplan erstellen wollte. Wir verständingen uns darauf, dass auf jeden Fall rechtzeitig bevor die WG-Mitglieder Richtung Heimat aufbrechen, die Küche wieder blinken muss, bis dem Sozialpädagogen einfällt, dass er die Woche noch ein Mädel zum „Adventskaffee“ eingeladen hat. Sein Problem, denken der Waldorfschüler und ich und stoßen noch einmal an.

Veröffentlicht unter 2002

Unser Advent 12

„This is David Bowie. It`s Christmas 1984 and there are more starving folks…”, schnarrt es aus dem Radiowecker. Ja, wäre es mal noch 1984. Dann wäre ich sechs Jahre alt und mein einziges Problem wäre wahrscheinlich, dass ich nicht weiß, was ich dieses Jahr vom Weihnachtsmann bekomme.

Nein, es ist nicht 1984, sondern der 13. Dezember 2002, 5.30 Uhr. Es ist kalt, es ist richtig kalt, ich muss arbeiten, und ich habe mal richtig keinen Bock. Wie kalt es ist, merke ich ganz schnell: Ich sehe meinen Atem im Treppenhaus; bis ich den Heizlüfter einschalte, sehe ich ihn auch im Bad; und es dauert geschätzte zwei Minuten, bis das Duschwasser vom einen Stock tiefer liegenden Boiler eine halbwegs annehmbare Temperatur hat.

Für mich als langjährigen Abonnenten des Bayernkuriers sind das nur Metaphern für die düstere Lage in Deutschland, die soziale Kälte des Gesundheitssystems, den frostigen Winter der Konjunktur. „Schröder hat sich mit seiner Art von Politik an Deutschland versündigt, wie dies beispiellos ist in der bundesdeutschen Geschichte. Den wahren Schaden werden wir noch zu spüren bekommen. Das aktuelle Dilemma scheint kaum lösbar“, schreibt Chefredakteur Peter Schmalz in der aktuellen Ausgabe. Schmalz, der ohne weiteres als Oberhetzer beim Landser oder der Nationalzeitung anfangen könnte, macht seinem Namen alle Ehre. Dann nämlich, wenn er seinen Herausgeber Edmund Stoiber interviewen darf. Da dreht sich selbst mir als wertkonservativem Fördermitglied der CSU der Magen um.

Es bleibt keine Zeit für weitere Zeitungslektüre und noch nicht einmal dafür, in meinen tollen Adventskalender zu gucken. Auf geht’s durch den Frost zur Straßenbahn, in der es schon am frühen Morgen nach Leberwurst und billigem Rasierwasser riecht. Die über 70 Jahre alte und 1,52 Meter große Putzfrau der VHS empfängt mich mit der üblichen Schimpfkanonade, von der ich nur die Hälfte verstehe. Sie zerrt mich zum Christbaum, der im Foyer aufgebaut ist, packt mit ihren Gummihandschuhen an den Stamm und rüttelt heftig. Der Boden rings um den Tannenbaum ist so stark mit Nadeln bedeckt, dass es wie dichter, grüner Teppich aussieht. Und nachdem die Putzfrau den Baum traktiert hat, sind auch noch die letzten losen Nadeln herabgerieselt. Die anhaltende Schimpfkanonade soll wohl folgendes bedeuten: Weil die Stadt so einen alten Baum geliefert hat, muss sie jetzt jeden Tag die Nadeln wegfegen, was eine ziemliche Sauerei ist, weil die Nadeln durch den täglichen Publikumsverkehr mittlerweile im ganzen Haus verteilt liegen.

Eine Stunde später – nachdem sich auch der Chef beschwert hat – schmücke ich das kahle Gerippe ab, zersäge es, damit es in die blaue Mülltüte reinpasst, fege die allerallerletzten Tannennadeln zusammen und stelle die Tüte in den Hof. Und das alles elf Tage vor dem heiligen Fest.

Veröffentlicht unter 2002

Unser Advent 8

Zickezacke Hühnerkacke

Loriot

Für mich als Bruder im Geiste Joschka Fischers sind es schwierige Zeiten. Der Ortsverband will nicht so, wie ich es will. Die Freiburger Parteibasis ist halt eine der letzten Bastionen grüner Politik, wie sie in den 80ern gemacht wurde. Problem: Wir haben das Jahr 2002, und Rübenbärte und Kratzepullis sind einfach unsexy.

„Kommt, die Zeiten der Trennung von Amt und Mandat sind vorbei. Wir haben es doch vor Bundestagswahl gesehen: Joschka, Joschka, Joschka und nochmals Joschka. Und kein anderer, der die Klappe aufreisst. So holt man Wählerstimmen und nicht anders“, hatte ich bei der letzten Ortsvereinssitzung gesagt, bevor die Abordnung zum Parteitag nach Hannover aufbrach. „Bei der Bundestagswahl hat es doch geklappt. Der Fritz und die Claudia haben doch ihre Sache halbwegs ordentlich gemacht.“

„Quatsch“, rief der Freiburger Oberfundi, einer von denen, die den Schuss noch nicht gehört haben, und raufte sich die verfilzten Haare. So reiste der Oberfundi mit seiner Oberfundi-Abordnung nach Hannover.

Und während sich die Grünen die Nacht mit der Frage der Trennung von Amt und Mandat um die Ohren schlugen lief mein Wochenend-Date nicht ganz so ab, wie ich es mir vorgestellt habe.

Um ehrlich zu sein: Es lief alles schief, was schief laufen konnte. Das ging schon vor ein paar Wochen los: Ich kaufte Karten für das Tanztheater am 7. Dezember. Der Mensch am Vorverkaufsschalter war sehr freundlich, zeigte mir den noch sehr bunten Monitor mit vielen freien Plätzen. Ich suchte mir zu günstigen Stundententarifen zwei Plätze im hinteren Parkett, Mitte aus. Das wird bestimmt nett, dachte ich mir.

Als ich mir vor einer Woche die Karten genauer anschaute, stand da nichts vom „7. Dezember, 19.30 Uhr“, sondern „21. November, 19.30 Uhr“. Und das dick und fett und ohne Zweifel, auch wenn es spät am Abend war.

„Das ist ihr Problem, wenn sie nicht sofort nach dem Kauf auf die Karten gucken“, sagte mir der Vorverkaufsmensch am nächsten Morgen ungerührt, „Der Fehler liegt bei Ihnen.“ Der Fehler lag dann doch beim Vorverkaufsmenschen, nachdem ich den Geschäftsstellen-Leiter gerufen hatte.

Da Freiburger Tanztheater hingegen aller Tocotronic-Liedtexte mit sinkenden Zuschauerzahlen konfrontiert sind, gab es dann doch noch Karten für den Dezembertermin. Kurz: Alles hätte gut werden können, wenn nicht ausgerechnet auf den Plätzen, die ich erstanden hatte, der Tontechniker sein Mischpult aufgebaut hätte. „Ach, haben die die Plätze schon wieder verkauft?“, fragte der Tontechniker uninteressiert. Und so fanden wir doch noch Plätze, und zwar hintereinander, und nicht nebeneinander.

Wenigstens das übliche „Wollen wir noch was trinken?“ hätte nett werden können, wäre nicht rein zufällig ihre beste Freundin aufgetaucht, die leider nur Karten für den Rang bekommen hatte. Es wurde ein netter Abend mit den beiden Mädels, die sich ziemlich viel zu erzählen hatten, während ich mir aus Frust eine Schachtel Luckys kaufte.

Den Rest der Schachtel habe ich dann noch den Mädels geschenkt, damit ich bloß nicht in Versuchung geführt werde und bin dann irgendwann nach Mitternacht nach Hause, während sich die Mädels noch soviel zu erzählen hatten.

„Scheiß Doppelspitze“, dachte ich bei mir und ärgerte mich über meinen Kinderüberraschungs-Kalender, in dem schon wieder drei Kinderschoko-Bons steckten.

Veröffentlicht unter 2002

Unser Advent 4

Es ist ein Weinen in der Welt,
Als ob der liebe Gott gestorben wär,
Und der bleierne Schatten, der niederfällt,
Lastet grabesschwer.

Else Lasker-Schüler

Nein, nein, so schlimm ist es noch nicht, auch wenn die Bild-Zeitung das ein bisschen anders sieht und unser Bundeskanzler das langsam auch zu glauben beginnt. Für mich als Unterstützer der Kanzlerkandidatur von Dr. Edmund Stoiber wäre es jetzt leicht, hämisch zu werden.

Das erledigt aber bereits Michael Glos für mich, während ich im Bett meinem Kinder-Happy-Hippo-Snack aus dem Kinderüberraschungs-Adventskalender den Kopf abbeisse und der Rede des CSU-Landesgruppenchefs im Bundestag lausche. Bei dem Mann weiß man nie,ob er nun „Daten“ oder „Taten“ sagt, wobei sich mir in der Wortbedeutung auch nach längerem Überlegen kein großer Unterschied erschließt. „Das ist der Weg von Champagner zum Leitungswasser und von Brioni zu Hennes & Mauritz“, sagt Glos (oder „Herr Glotz“, wie ihn der Kanzler gleich zweimal nennen wird), als ich gerade aus dem Bad komme und mir meinen hellblauen H&M-Rollkragen-Pullover überstreife.

Kein Grund zur Häme: Solange es die Deutschen noch schaffen, bar 999 Euro für den Volks-PC auf den Tisch zu blättern, dauerts mit dem Weltuntergang noch ein bisschen. Ich will ja erst nächstes Jahr einen Job. Und bis dahin haben wir ja noch Zeit.

Ich bin nicht so wie mein Germanistik-Professor, bei dem keine Stunde ohne einen Seitenhieb auf die aktuelle Bundesregierung vergeht. Aber gerade wenn das Auditorium zu kapieren beginnt, dass es wieder lustig wird, unterbricht er sich Äugschen knipsend und mit einem kleinen Räuspern: „Aber dazu darf ich mich ja nicht äußern“. Das ist der Dozent von dem die Mär geht, er spiele abends, wenn er abends nach Hause kommt, nur noch Computer, weil er schon alles weiß. Von dem gleichen Dozenten wird erzählt, er sei früher Boxer und glühender Anhänger von Horkheimer und Adorno.Was sich dann nach Abschluss der Familienplanung und dem Antritt der C-4-Professur schlagartig geändert hat.

Auf gehts anschließend zum Weihnachtsmarkt. Nach zwei Gläsern Glühwein sieht die Welt schon wieder ganz anders aus, nach dem dritten Glas erst recht. Und dafür lieben wir doch auch alle die Adventszeit, die Zeit der Lichter und Wohlgerüche. Wenn auch die menschliche Wärme fehlt, wenigstens ist es warm im Magen. Da sagt auch Else nicht nein.

Veröffentlicht unter 2002

Unser Advent 1

Die Schokobons aus meinem Kinderüberraschungs-Adventskalender lutschend liege ich in meinem Bett. Es tagt bereits ordentlich, die alternativen Sonntagsspaziergänger sind schon alle mit Rucksack im Wald, weil es ja so einen schönen blauen Himmel hat. Und ich mache ganz schnell den Rolladen ein Stück herunter.

Der sonntägliche Anruf zu Hause steht noch an, bei dem ich schon mal meinen Wunschzettel durchgeben werde. Ich schwanke, ob ich mir zum zweiten Mal hintereinander ein Houellebecq-Buch wünschen oder doch lieber die Kurt Cobain-Tagebücher („aber natürlich auf Englisch, weil die deutsche Fassung ja gekürzt ist. Und überhaupt ist das sowieso viel authentischer. Auch wenn Courtney alles versaut hat.“).

Ganz verschmitzt und klein steht noch „Anstoss 4“ auf der Liste, auch wenn mir bewusst ist, dass Fußballmanager-Spiele gänzlich unintellektuell und zeitverschwendend sind. Andererseits: Das sind die Cobain-Tagebücher erst recht. Daran ändert die Neue Zürcher Zeitung nichts, die Cobain im Feuilleton neben Robbie Williams „Escapology“ besprechen. Kurt hätte gekotzt, aber das hat sich ja jetzt auch erledigt.

Der Mitbewohner fragt, ob ich mit ins Stadion zum SC komme. Nein danke, zu kalt. Stattdessen setze ich mich ins Auto und fahre zur Nachmittagsvorstellung von „Bowling for Columbine“. Besinnlich ist das nicht, aber verstärkt bei mir als Altlinken wenigstens das Klischee des unterbelichteten Amerikaners, dem man trotzdem – oder gerade deshalb – einen Waffenschein gegeben hat. Das dümmste Volk der Welt 120 Minuten lang – Gott schütze mich vor diesem Land.

Und hiermit übergebe ich an den Kai.

Veröffentlicht unter 2002

Wenn man so will…

Zum ersten Mal in diesem Jahr blendet mich beim Abendessen in der Mensa die untergehende Sonne ins Gesicht. Ich bin früh hier, weil das Seminar in den Semesterferien schon geschlossen hat. Vor mir in der Schlange an der Essensausgabe steht ein älterer Franzose, ausrasierter Stiernacken, gestutzter Schnubbi, bläulich getönte Fliegerbrille, ein buntes T-Shirt mit Palme über dem dicken Bauch. Der Franzose ist immer früh dran, und zehn Meter gegen den Wind riecht es so, als sei er gerade aus irgendeinem Keller gekommen.

Was ich über den Franzosen weiß: 1) dass er Franzose ist, weil er immer irgendwas Französisches nuschelt, wenn er bei der Essensausgabe an die Reihe kommt, 2) dass er Vegetarier ist, weil neben dem französischen Geschwafel noch das Wort „vegetarisch“ rauskriegt, 3) dass er seine vegetarische Portion innerhalb von fünf Minuten verputzt, dann zur Nachschlagtheke spurtet (erstaunliche Wendigkeit bei dem Körperumfang), den Nachschag in weiteren zwei Minuten vertilgt und dann schnurstracks aus dem Gebäude spurtet.

Während des Winters hat sich der Franzose mit seinem Tablett immer in den dunkelsten Mensawinkel verzogen, absichtlich da, wo die Birnen kaputt sind. Heute, im untergehenden Sonnenlicht, setzt er sich mir gegenüber. Der orangefarbene Sonnenball spiegelt sich in seiner Brille seltsam bräunlich. Ich schaue fasziniert zu, wie der Franzose schlingt und überlege mir, wie man wohl mit seinem Mann ein Gespräch anfangen kann. „Vous mangez trés vite“ bastele ich mir als Eingangsbemerkung zusammen, schweige dann aber lieber doch, peinlich berührt über mein verkümmertes Touristenfranzösisch.

Der Franzose ist weg und ich blinzele auf mein Tablett. Beim Blick auf das unten angepriesene Zigeunerhacksteak war mir spontan schlecht geworden (Juchhu, seit fünf Wochen strikt vegetarische Kost, sogar einen McDonalds-Besuch habe ich mir verkniffen). Nun liegen vor mir fünf kleine Frühlingsrollen, die ich misstrauisch beäuge. Denn nichts ist so zweifelhaft wie der Inhalt von Frühlingsrollen (alte chinesische Weisheit), vor allem, wenn man sie zum Abendessen in der Mensa serviert bekommt. Ich werde nicht enttäuscht: Geschmacklich können die gesammelten Küchenabfälle maximal vom Vortag sein. Und das restliche Unbehagen kann ich mit der im Plastikpöttchen nebenan schwimmenden Sojasoße wegtunken.

Während dessen stellt sich an der Nachschlagtheke eine Fettel auf und lässt sich das Tablett flächendeckend mit Pommes, Ketchup und Majo volladen, für sich und ihre drei dicken Freundinnen, die schwatzend nebenan stehen. Der obligatorische Alibi-Salat darf nicht fehlen, und flappflappflappplumps suchen sich die vier Mädels einen Tisch und fangen an mit den dicken Fingern in den Pommes herumzuwühlen. Das Selbstbewusstsein, mit dem dicke Menschen noch dicker werden fand ich schon immer bemerkenswert, denke ich mir, stecke mir eine Frühlingsrolle in den Mund und schaue Richtung roter Sonnenball.

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Michis Adventskalender 3

03/12/01, 10 Uhr, Geschäftskundenbereich Sparkasse. Die alten Herren, die sich im Vorraum der Sparkasse auf den Monitoren die Entwicklung ihrer Fonds anschauen, stehen da wie immer. Nur im Schalterraum ist seit Tagen mehr Gedränge als sonst. Kein Wunder: Seit heute hat die Sparkasse die improvisierten Euroschalter für ihre Geschäftskunden aufgemacht. Die Schalter passen so gar nicht zum feschen Sparkassenrot. Blau und gelb sind sie gestrichen, oben drüber steht, damit es auch jeder versteht, „DM -> €“. Der Mann, der normalerweise an der Kasse steht, ist jetzt an den Euro-Schalter abberufen worden. Und das, wo die Geschäftsleute vor allem darum bemüht sind, ihre alten Devisen noch vor Jahreswechsel aufs Konto zu bringen. Dementsprechend sieht es in der Schalterhalle aus: Kein Mensch will Euro haben, statt dessen Gedränge an der Kasse.

Vor mir in der Schlange steht ein Typ mit Nackenspoiler, Schnubbi, Goldkettchen und Slippern, eine dicke Tasche unterm Arm, vielleicht 30 Jahre alt. Entweder Zuhälter oder Sonnenstudio-Besitzer, denke ich mir. Die Narben im Gesicht verweisen eher auf die erste Lösung, der Geldbetrag, den er jetzt dem Kassierer auf den Tisch knallt auf die zweite. Oder auch nicht.

Offensichtlich hat der Mann die kompletten Monatseinnahmen aus dem Safe geklaubt und in die Aktentasche gepackt. Geldbündel um Geldbündel wandert über den Tresen, und da kommt bei mir die Frage auf, welcher Gewerbezweig in den kalten Monaten wohl mehr Umsatz macht. Ein Sonnenstudio ist vor allem wetterabhängig, ein fester Bordellbetrieb in einer mittleren Großstadt lage- und rufabhängig. Dazu kommen die Faktoren Angebot, Servicefreundlichkeit und Preis. Also vielleicht doch ein Zuhälter, auch wenn die Stadt Freiburg etwas prüde ist, was die Ansiedlung des horizontalen Gewerbes angeht.

Es geht und geht nicht weiter in der Schlange. Ich habe um Viertel nach Uni, und mittlerweile ist es 10.20 Uhr. Der Zuhälter blättert die Scheine auf den Tisch, kramt mit seinen Wurstfingern in der Tasche rum und dreht sich immer wieder nach hinten um. Mit dem rechten Ärmel seiner Jeansjacke wischt er sich kurz über seine Knollennase. Gleichgültigkeit steht ihm ins Gesicht geschrieben, dem Kassierer sowieso, der sich beim Hantiereren mit der Gelzählapparatur nicht aus der Ruhe bringen lässt.

Ich schaue in das Mäppchen, in der das VHS-Geld steckt – eine verschwindet geringe Summe im Vergleich zu den Batzen, die der Zuhälter auf den Tisch haut. Vielleicht habe ich ja doch den falschen Job.

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Michis Adventskalender 2

02/12/01, 2 Uhr, Diskothek Fun-Park. Wo bin ich hier schon wieder gelandet, frage ich mich seit drei Stunden. Objektiv betrachtet in einer dieser neuen Großraumdiskotheken, die seit geraumer Zeit in allen möglichen Industriegebieten aus dem Boden sprießen und die dem Publikum auf mehreren Bereichen die volle Bandbreite des nächtlichen Gauditums darbieten. Subjektiv gesehen im üblichen Mainstream-Moloch, der es jedem recht machen möchte, vor allem der Dorfjugend aus dem Umkreis, die mit Papas Auto oder dem tiefergelegten Golf II mit verdunkelter Heckscheibe anreist. Das Mobiliar ist betont kitschig, glitzernd und hölzern rustikal. Nicht umsonst ist direkt nebenan ein Baumarkt, der auf den überall herumhängenden Fernsehern kräftig beworben wird. Statt der guten, alten Pappkarte, die bei Verlust viel Geld kostet, werden am Eingang Plastik-Karten ausgegeben, versehen mit Strichcode und Speicherchip. Auch das Logo der Disko ist draufgedruckt, wahrscheinlich aus finanziellen Gründen vom Geschäftsführer selbst entworfen. Geht ja auch einfach: irgendeine dieser Space-Schriftarten, dunkler Hintergrund, ein paar Sterne, Strich drunter, fertig.

Über die Monitore flimmert, was mir heute erspart bleibt: Zum Nikolaus kommt „Future Breeze“, die Woche drauf „Brooklyn Bounce“. Und wer sich an Heiligabend vor 23 Uhr in den Fun-Park aufmacht, kriegt „als kleines Geschenk vom Chef“ alle Getränke umsonst – ein Paradies für alle Depressiven ohne Familienanhang, die nicht unbedingt zum CVJM gehen wollen.

Die Bollos sehen genau so aus wie in Duisburg-Hamborn, die mitgeschleiften Mädels sind entweder Arzthelferin oder Friseuse und heißen wahlweise Marion, Heike oder Peggy. Auf jeden Fall tragen sie bauchfrei, egal wie die Wampe quillt. Aber das sind ja alles Vorurteile und Allgemeinplätze, die schon viel zu oft gesagt worden sind, denke ich mir, und entdecke auf der Tanzfläche im Black Musik & Soul-Bereich einen Typen, der auf der Tanzfläche umherwankt. Eigentlich nichts Besonderes um diese Uhrzeit, wenn da nicht diese traurigen Augen wären. Der Typ schaut jeden an, der an ihm vorbeiläuft, schaut kurz auf wie ein verstörtes Reh. Am Revers seiner Jeansjacke ist eine Aids-Schleife festgemacht, die Hose hängt auf halb Acht, und im Schwarzlicht wirken die dicken weißen Schnürsenkel noch klobiger als sie es so schon sind. Der Typ torkelt herum, sieht aber nicht aus, als wenn er gleich kotzen muss. Eher so, als wäre ihm gerade die Freundin weggelaufen.

Ein komischer Abend ist das. Der Geschäftsführer hat wohl etwas halbherzig eine Motto-Party anberaumt. Titel: Moorhuhn – auch eines dieser Massenphänomene der Unterschicht, die ich abgrundtief hasse. Konfetti und Luftballons liegen auf dem Boden, und eine Aushilfe im Huhnkostüm verteilt bunte Gelee-Eier, die es um diese Jahreszeit eigentlich gar nicht gibt. Wahrscheinlich sind die Eier von Ostern übrig geblieben. Als der Kerl im Huhn-Kostüm dem Torkelnden ein Ei hinhält, schaut dieser nur kurz auf und senkt wieder traurig den Blick.

Veröffentlicht unter michi